Ötzi – der älteste Kriminalfall der Welt
Der Fund des Ötzi brachte uns auf besondere Weise unsere eigene Vergangenheit näher. Er gewährt uns bis heute neue Erkenntnisse über das Leben der Menschen in der Jungsteinzeit und hat noch immer nicht alle seiner Geheimnisse preisgegeben. Doch wer war der Mann aus dem Eis, und wie kam es zu diesem einzigartigen Fund?

Die Geheimnisse des Manns aus dem Eis
Die Geschichte des Ötzi wird weithin als ältester Kriminalfall der Welt bezeichnet. Der Mann aus dem Eis starb zwar einsam auf einem verschneiten Pass in den Alpen, doch nicht unter natürlichen Umständen. Es gibt mehrere Hinweise darauf, dass Ötzi noch kurz vor seinem Tod in einen Kampf verwickelt war. Aber warum sollte jemand einen Mord auf über 3.000 Metern Höhe begehen? Und ganz allgemein: Wer war er? Aktuell sehen wir Jürgen Vogel im Kino als Ötzi vor seinem Tod: "Der Mann aus dem Eis" (2017) beleuchtet das Leben und Sterben der wohl berühmtesten Leiche der Welt. Wir haben die wichtigsten Fakten zum Fall Ötzi zusammengetragen.

Wie wurde Ötzi gefunden?
Es ist der 19. September 1991. Zwei deutsche Bergsteiger machen sich an den Abstieg von einem Gipfel der Ötztaler Alpen und verlassen den markierten Weg. Dabei machen sie in einer Felsmulde eine grausige Entdeckung: eine Leiche. Hinterkopf und Schultern sind klar zu erkennen. Womöglich ein vor langer Zeit verunglückter Wanderer? Zunächst hält man ihn dafür und zerrt den fragilen Körper rabiat mit Eispickeln und Skistöcken aus seinem gefrorenen Grab am Similaun-Gletscher in 3.210 Metern Höhe. Weil man im ersten Moment von einer etwa 100 Jahre alten Leiche ausgeht, soll der Verstorbene schon beinahe beerdigt werden. Doch Reinhold Messner ist zu der Zeit auch im österreichisch-italienischen Grenzgebiet unterwegs, sieht sich den Körper an und widerspricht – erstmals wird man hellhörig: Der Tote stamme mindestens aus dem Mittelalter! Also nehmen Experten die Leichnam genauer unter die Lupe …

Die Untersuchungen
Nach einigen Untersuchungen im Tal folgt dann die Sensation: Die Forscher trauen ihren Augen kaum als die Radiokarbon-Datierung das Alter des Toten preisgibt. Gut 5.300 Jahre soll der Körper alt sein! Er ist also in der Tat ein verunglückter Wanderer, allerdings ein prähistorischer. Älter als Stonehenge in England oder die Cheops-Pyramide in Ägypten. Dieser Fund ist ein echtes Wunder. Der Mann lebte in der Jungsteinzeit, genauer gesagt in der Kupferzeit etwa zwischen 3.350 und 3.100 v.Chr. und bietet den Forschern eine einmalige Chance, mehr über das damalige Leben der Menschen in der Alpenregion zu lernen. Also unterzieht man den Leichnam einer Reihe von Untersuchungen. Dabei stellten die Forscher Interessantes fest …

Ötzi war ein kranker Mann
Der Mann litt unter einem hohen Cholesterinspiegel und Arteriosklerose, zudem müssen ihn wohl Magenschmerzen und Darmparasiten geplagt haben. Die Tests suggerierten ein Alter von gut 45 Jahren – ein wahrhaft biblisches Alter im Neolithikum – und eine Größe von rund 1,60 Meter. In seinem Magen fand man die Überreste einiger ausgiebiger Mahlzeiten, er hatte wohl erst wenige Stunden vor seinem Tod zuletzt gegessen. An vielen Stellen seines Körpers entdeckten die Forscher außerdem kleine Tätowierungen: parallele Linien und Kreuze. Die Wissenschaftler vermuten dahinter eine medizinische (man fand die Ritzungen nahe seinen Gelenken) oder eine rituelle Funktion. Hinzu kommt die Entdeckung eines Schnitts in der Daumenbeuge. Sie zeigte Anzeichen eines Heilungsprozesses, Ötzi musste sie also wenige Tage vor seinem Tod erlitten haben. Außerdem fanden die Forscher stumpfe Verletzungen an seinem Schädel.

War es Mord?
Doch ein Fund überstrahlte alle anderen: In Ötzis Schulter entdeckten die Experten eine Pfeilspitze. Dies war die Verletzung, die Ötzi zugrunde gerichtet haben könnte, denn der Einschuss hatte eine Arterie durchtrennt. Die Entdeckung des Schädel-Hirn-Traumas und der Abwehrverletzung in der Daumenbeuge ließ die Forscher aufhorchen und Ötzis Geschichte umschreiben. Ötzi scheint keines natürlichen Todes gestorben zu sein, wie bisher angenommen. Die Pfeilspitze spricht eine eindeutige Sprache: Der Mythos um den ältesten Mordfall der Welt war geboren.

Ötzis weitere Habseligkeiten
Die Untersuchung von Ötzis weiteren Besitztümern untermauert diese Theorie. Denn auf dem Kupferbeil, das der Tote bei sich trug, sicherten die Wissenschaftler DNA-Spuren von vier verschiedenen Menschen. Das war ein äußerst unerwartetes Ergebnis und nährte die Mord-These weiter. War Ötzi ein paar Tage vor seinem Tod in einen Kampf verwickelt gewesen, in dem er die Angreifer zurückschlagen konnte? Dafür sprachen die Schnittverletzung in seiner Daumenbeuge und die DNA-Spuren an seinem Beil. Der Fall wurde nach dem Fund der Pfeilspitze also noch mysteriöser. Dabei schien er anfangs noch leicht zu lösen: Ein alter Mann verirrt sich in den Bergen, schläft dann im Schatten eines Felsens ein und erfriert. Doch die neuen Indizien säen berechtigte Zweifel an dieser Theorie. Doch warum musste der "alte" Mann so hoch oben in den Bergen sterben? Und was war das Motiv des Mordes?

Ötzis Kleidung
Auf der Flucht war er immerhin nicht, dafür sprechen seine Essenspausen. Die Analyse seines Mageninhalts ergab, dass er erst eine halbe Stunde bis eine Stunde vor seinem Tod Trockenfleisch vom Steinbock, Äpfel und Getreide zu sich genommen hatte. Auch seine Garderobe lieferte den Wissenschaftlern weitere Anhaltspunkte. Er wählte seine Kleidung gründlich und mit Bedacht, nicht wie jemand, der hastig aufbrechen muss. Er trug Felle von verschiedenen Tieren, allein für seinen Mantel mussten vier Schafe und zwei Ziegen ihr Leben lassen! Ötzis Beinkleider waren ebenfalls aus Ziegenleder gefertigt, seine Mütze bestand aus Bärenfell. Seine Füße schützte er vor der Kälte mit Schuhen aus einem Bären- und Hirschleder-Mix, isoliert waren sie mit Stroh. Als Schlafunterlage und Umhang diente ihm eine etwa 90 Zentimeter lange Grasmatte. Hinzu kam noch ein Behältnis für Glut sowie ein Zunderschwamm, um sich auch in den erbittertsten Höhenlagen an einem Feuer wärmen zu können. Der Mann war also perfekt auf das Überleben im Hochgebirge vorbereitet.

Ein Schamane, Häuptling oder Händler?
Aber was tat er so hoch in den Bergen? Ausgehend von den rituellen Tätowierungen lautet eine Erklärung, dass er möglicherweise als Schamane und Weiser seines Dorfes hoch in die Bergen nach spiritueller Inspiration suchte, unwissend, dass seine Mörder ihm bereits auf den Fersen waren. Eine andere sieht Ötzi als vorausschauenden Häuptling seines Dorfes, der gerade das Territorium und die Handelsrouten seiner Gemeinschaft überprüfen wollte. Oder war er selbst ein Händler, der über die Pässe der Alpen stieg, um neue Routen zu erschließen?

Weitreichende Handelsbeziehungen
Die Materialien, die Ötzi bei sich trug, lassen definitiv auf einen regen Handel in der Region schließen – fortschrittlicher und weitreichender als für die primitive Kultur aus Jägern und Sammlern bisher angenommen. So stammte das Erz für das Kupferbeil aus der Toskana, seine Steinklingen aus dem Salzburger Land. Die Menschen jener Zeit unterhielten also bereits weitreichendere Handelsbeziehungen, als man es erwartet hatte. Ob Ötzi selbst ein Händler war, ist aber leider nicht abschließend zu klären.

Wurde Ötzis Status ihm zum Verhängnis?
Was diese Erkenntnisse allerdings gemeinsam haben, ist, dass sie Ötzi einen gehobenen sozialen Status zuschreiben. Das scheint heute sehr wahrscheinlich, betrachtet man Ötzis für damalige Verhältnisse beeindruckend hohes Alter von 45 Jahren sowie seine weiteren Besitztümer. Bei ihm fand man ein Kupferbeil, mehrere Steinklingen und einen Bogen. Im Neolithikum waren das wahre Schätze. Eine Kupferklinge und einen Bogen konnte sich bei weitem nicht jeder leisten, diese Statussymbole waren Angehörigen der Claneliten vorbehalten. Wurde Ötzi also in seinem Dorf um seinen hohen Status beneidet oder musste er gar aufgrund seines hohen Alters sterben, um Platz zu machen für eine neue Generation?

Ötzis letzte Rast
Das wäre immerhin eine gute Erklärung für die Tatsache, dass Ötzi all sein Gepäck noch bei sich trug. Wäre es ein Raubmord gewesen, hätte der Angreifer die Wertsachen wohl kaum zurückgelassen. Kannten sich Ötzi und sein Mörder also? Diese Erklärung scheint zumindest plausibel, ein Mann aus dem Dorf hätte mit Ötzis Beil und Bogen nach dessen Verschwinden wohl für einiges Misstrauen gesorgt. Raubmord scheidet also aus – politische oder persönliche Beweggründe bleiben weiter denkbar. Die Motive für einen Mord waren damals so vielfältig wie heute. Die genauen Umstände werden wir also wohl niemals komplett enträtseln. Als wahrscheinlichstes Szenario wird heute angenommen, dass Ötzi sich nicht bewusst auf der Flucht befand als er seinen Mörder traf, sondern während einer Pause. Seine Waffen hatte er beiseitegelegt. Dabei traf ihn hinterrücks ein Pfeil, der seine Schlüsselbeinarterie durchtrennte. Danach wurde er wohl von einem schweren Objekt an der Stirn getroffen, was die stumpfen Schädelverletzungen erklärt. Ob zugefügt durch einen finalen Hieb mit einem Stein oder durch einen Sturz lässt sich dabei nicht mehr rekonstruieren. Ötzis Mörder hat danach wahrscheinlich noch versucht, den wertvollen und eventuell verräterischen Pfeil herauszuziehen, wobei die Pfeilspitze abbrach und in Ötzis Schulter steckenblieb. Welche seiner Verletzungen letztendlich zum Tod geführt hat, ist nicht mehr nachvollziehbar – entweder das Schädel-Hirn-Trauma oder der hohe Blutverlust infolge der durchtrennten Arterie kosteten dem Mann aus dem Eis am Ende das Leben.
Autor: Lukas Klaas